«Die Diskussion um rassistische Begriffe finde ich nach wie vor übertrieben»
Gabriella Binkert, 2020 als Gemeindepräsidentin (SVP) im Val Müstair gewählt, Geschäftsführerin einer Firma
«Ich war überwältigt von den Reaktionen auf meinen SRF-«Arena»-Auftritt im Juni 2020. Zu 99 Prozent waren sie positiv. Im Tal kamen viele ältere Frauen auf mich zu, um über Rassismus zu sprechen. «Sag mal», fragten sie, «hattest du Probleme? Wie war das, als du zu uns ins Tal gekommen bist?» Ich antwortete, dass ich keine Probleme gehabt hätte. «Ihr wart toll.» Viele sagten auch, dass sie stolz auf mich seien. Ich finde es gut, dass man sich traute, darüber zu sprechen. Die Leute sind nicht nur hier im Tal offener geworden, Rassismus zu thematisieren.
Als ich dieses Jahr Schwarze Personen als Expertinnen und Experten im Fernsehen sah, fragte ich mich: Wurden sie nur angestellt, weil sie Schwarz sind? Ich glaube, viele Arbeitgeber haben Angst, sich die Finger zu verbrennen, wenn sie eine nicht-weisse Person für einen Job ablehnen. Das sollte nicht sein. Der Mensch und seine Leistung sollten im Vordergrund stehen, nicht das Aussehen, das Geschlecht oder die Hautfarbe. In meinen Augen wurde ich auch nicht zur Gemeindepräsidentin gewählt, weil ich eine Frau bin.
Über sogenannte rassistische Begriffe denke ich gleich wie vor einem Jahr. Ich finde die Diskussion darum übertrieben. Man kann auch jemandem korrekt sagen, er sei eine Schwarze Person, und es im Ton doch abwertend meinen. Dennoch sind sich die Leute bewusst geworden, wie man sich anständig ausdrückt. Auch ich würde heute kontern: N-li, das sagt man wirklich nicht mehr.
Auch bezüglich der Kolonialgeschichte hat sich meine Position nicht verändert. Wenn wir über Kolonialismus sprechen wollen, müssen wir auch im Bezug auf heute ehrlich sein: Viele Länder behandeln Menschen noch immer wie Sklaven. Das hört nicht auf, nur weil wir Statuen niederreissen.
Ich habe keinen neuen Zugang zum Thema gefunden, ich hatte immer meine Haltung und bin immer einfach geradeaus durchs Leben gegangen mit meiner dunklen Hautfarbe. Man muss aufpassen, dass man sich selbst nicht etwas vorjammert. Ich habe mich schon als Kind gewehrt. Wenn mich heute jemand fragt, ob ich Deutsch spreche, könnte ich natürlich beleidigt sein. Aber man kann darüberstehen. Jemand, der in der Vergangenheit wirklich Probleme hatte, der verfolgte die «Black Lives Matter»-Diskussion in diesem Jahr aber bestimmt anders als ich.
Und weil es diese Probleme noch immer gibt, finde ich es wichtig, dass Kinder bereits in der Schule mehr Toleranz lernen. Nicht nur Schwarzweiss. Sondern einfach betreffend Menschen – mit Migrationshintergrund, mit Handicap. Und jene, die zu uns kommen, müssen sich auch öffnen und den Gegebenheiten anpassen. Wir profitieren alle, wenn wir offener sind.»
https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2021/black-lives-matter-bilanz/#binkert